Kapitel 01: NICK\\ SCHMUTZIGE GEHEIMNISSE
Sieben Wochen zuvor
Als Nick nach einem langen Arbeitstag die Bar betrat, den Kopf noch halb in den Problemen versunken, welche sich auf seinem neuen Schreibtisch stapelten, blieb er an der Tür stehen, um die Fortschritte des Innenausbaus zu betrachten.
Es sah schon echt gut aus.
Ein gedämpftes Ping informierte ihn über eine eingehende Nachricht und ein gezielter Blick nach rechts oben vergrößerte das Chatfenster in Nicks peripherem Sichtfeld.
— [Offener Kanal: Lt. Ludmilla, Cmdr. Sheridan]—
Lt. Ludmilla: Commander, ist alles in Ordnung?
—
Als er mit seinem Blick der angehängten Standortmarkierung folgte, erblickte Nick Ludmilla in einer der neu eingerichteten Sitzecken vor den rechten Seitenfenstern. Wie er trug sie immer noch ihre Uniformhose und ein weißes Hemd, doch keine Jacke. Bei ESF-Personal war es üblich, den dienstfreien Status auf diese Art kundzutun.
Laut ihrer Personalakte war Ludmilla 62 Jahre alt und hatte davon etwa 35 in der Flotte gedient.
Er wollte sich schon lange mal mit ihr zusammenzusetzen. Ursprünglich, da er befürchtete, dass es sie als seine Stellvertreterin am Steuer stören könnte, einem halb so alten Vorgesetzten unterstellt zu sein. Jetzt, da er zum XO ernannt worden war und sie seinen früheren Posten als erstere Pilotin geerbt hatte, war dies jedoch kein Thema mehr. Trotzdem mussten sie eng zusammenarbeiten, und ein Gespräch war längst überfällig.
Auch wenn er sich nicht ganz in der Stimmung dazu fühlte, antwortete er trotzdem:
— [Offener Kanal: Lt. Ludmilla, Cmdr. Sheridan]—
Cmdr. Sheridan: Mir geht es gut. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich ein wenig zu Ihnen setze?
Lt. Ludmilla: Nein, natürlich nicht.
—
Nick machte sich also auf den Weg zu ihrer Sitzecke und nahm ihr gegenüber Platz, „Lieutenant.“
„Commander“, sie lächelte beinahe – ein seltsamer Ausdruck in ihrem sonst so ernsten Gesicht.
„Bitte, nenn mich Nick“, er war sich nicht sicher, ob es sein Recht war, das anzubieten. Einerseits war er ihr Vorgesetzter, andererseits war sie älter und eine Frau. Letzterem maßen die meisten Menschen in Situationen wie dieser kaum noch Wert bei, doch Glen hatte Nick beigebracht, ein Gentleman zu sein, und Nick hatte noch nie eine Frau getroffen, die es nicht genoss, wie eine Dame behandelt zu werden.
Ludmilla schien nicht beleidigt, „Nur wenn du mich Ulriikka nennst.“
„Ullllriiiiikka“, versuchte er es.
Ihr Gesichtsausdruck verbreiterte sich zu dem zartesten Lächeln, das er je gesehen hatte, „Ulla reicht.“
„Ulla Ludmilla?“, er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Sie zuckte leicht mit den Schultern, „Meine Brüder fanden das lustig und es blieb hängen.“
Eine Getränkekarte ploppte in der offenen AR zu Nicks Linken auf.
„Nun, Ulla, möchtest du mehr davon?“, er deutete mit einem Nicken auf die letzten Schlucke der hellbraunen Flüssigkeit in ihrem Glas.
„Danke, nein“, antwortete sie, „Aber ich nehme ein Glas Wasser.“
„Gerne“, er bestellte zwei Gläser Wasser, obwohl ihm eher nach Bier zumute war, „Und, wie kommst du mit unserem neuen dritten Piloten zurecht?“
„Er muss noch Einiges lernen, aber das wird schon“, Ulla kippte den Rest ihres Getränks in einem Zug hinunter, „Er ist in erster Linie ein Jägerpilot, und wie du weißt, ist die Gateshot eine ganz andere Größenordnung.“
Nick nickte.
„Ich habe ein paar Trainingspläne geschrieben und Fr. Baileywick hat eine Reihe von Simulationen erstellt, mit denen er innerhalb von sechs Wochen ein zufriedenstellendes Niveau erreichen sollte.“
Während sie ihm die Details erläuterte, nahm sich Nick Zeit, sie genauer zu betrachten.
Feine Linien, ein kantiges Kinn und dunkelblaue Augen kennzeichneten Ulriikka Ludmillas schlanke, markante Gesichtszüge. Ihr hellgraues Haar war wie immer zu einem strengen Dutt zusammengebunden und erweckte in Kombination mit ihrer fast schon steifen Haltung das Bild einer hageren Bibliothekarin. Nicht jene Art, die Männerblut in lustvoller Erwartung in Wallung bringt, sondern jene, welche eine fast schon übernatürliche Angst davor hervorruft, übermäßig laute Geräusche zu produzieren. So nah und in relativer Ungestörtheit beisammen zu sitzen, offenbarte Nick ihre unspektakuläre, unaufdringliche Attraktivität. Ludmillas offenkundiger Unwille, ihre eher bescheidene natürliche Schönheit aufzuhübschen, verlieh ihr einen besonderen Charme, welchen manche Männer sicher faszinieren würde. Doch die steife Korrektheit, welche in jedem einzelnen Haar und jedem Quadratzentimeter weltraumweißer Haut steckte, würde wahrscheinlich alle bis auf die Kühnsten abschrecken. Eine seltsame Mischung aus Lach- und Sorgenfalten deutete auf eine Vergangenheit auf beiden Seiten der Gleichung hin, unabhängig von dem Bild, welches sie jetzt präsentierte.
„Wow, du bist eine harte Lehrmeisterin!“, kommentierte er, als sie ihre Ausführungen beendete.
Eine Kellnerdrohne schwebte herbei, um ihnen ihre „Getränke“ zu bringen.
„Ich möchte, dass meine Leute vorbereitet sind“, erklärte sie achselzuckend und reichte das leere Glas an den künstlichen Kellner weiter.
„Was sehr löblich ist“, mit einem Gedanken öffnete er ihre Personalakte in seiner privaten AR und suchte nach ihrer Berufslaufbahn, wobei er darauf achtete, nicht plötzlich abgelenkt zu wirken, während er ein paar verstohlene Blicke darauf warf. Da sein Gedächtnis ihm in letzter Zeit immer wieder Streiche spielte und er in der Vergangenheit nur einen kurzen Blick auf ihre Unterlagen geworfen hatte, erschien es ihm sinnvoll, zu verifizieren, woran er sich erinnerte, um nicht wahlweise wie ein uninteressiertes Arschloch oder ein uninformierter Idiot zu wirken, „Du warst schon mal erste Pilotin, stimmt’s?“
„Knapp zwanzig Jahre lang“, ihr Ton war ruhig und sachlich.
„Du hattest anscheinend eine sehr erfolgreiche Karriere. Dann bist du für ein paar Jahre ausgestiegen, um dich um deine Tochter zu kümmern?“
Sie nickte. Ihr Blick schweifte zur Seite und beobachtete ein paar Sterne, welche in der Ferne funkelten.
Mann, er hatte nicht beabsichtigt, dies zu einem Vorstellungsgespräch umzufunktionieren. Doch er fragte sich schon …
Da sie keine Anhaltspunkte für ihre Gefühle gab, wagte er es, unverblümt zu fragen: „Hör zu, mir ist klar, dass du mir in Bezug auf Erfahrung und Dienstjahre weit voraus bist. Stört es dich, dass du nur deshalb wieder erste Pilotin bist, weil ich zum XO befördert wurde?“
Sie blinzelte einmal, bevor sie den Kopf schüttelte, „Nein. Der Admiral hat ausdrücklich nach dir gefragt. Ich kenne die Realitäten von Rang und Position genauso gut wie du, und ich bin nicht mit einem Posten verheiratet. Ich bin einfach nur froh, wieder zu fliegen und … eine neue Chance zu bekommen.“
Er bemerkte, dass sie nach ihrer Auszeit nicht in den aktiven Dienst zurückgekehrt war, sondern in den letzten Jahren kleine Frachter und dergleichen gesteuert hatte. Seltsam.
Warum … oh … ihre Tochter war erkrankt und in Ludmillas Obhut verstorben. Ihr einziges Kind. Ludmilla hatte nie geheiratet, hatte also keinen Partner gehabt, um ihr in diesen schweren Zeiten beizustehen. Die Arme. Das hatte es ihr sicherlich schwer gemacht, einfach wieder ihren Dienst anzutreten, als wäre nichts geschehen … War sie auf der Flucht, so wie er?
„Wegen dem, was mit deiner Tochter passiert ist?“, fragte er mit leisem Mitgefühl, wobei er darauf achtete, es nicht zu übertreiben. Niemand mochte es, bemitleidet zu werden.
Sie nickte abermals, „Cassandra war ehrgeizig, wie wir alle. Mein Großvater prahlte gerne damit, dass wir schon den Himmel unsicher machten, als Flugzeuge noch mit Verbrennungsmotoren flogen. Wie dem auch sei, wir Ludmillas denken kaum darüber nach, andere Wege einzuschlagen. Wir werden alle mit dem Drang zu Fliegen geboren.“
Ein stummes Verstehen schlich sich zwischen sie.
Sie spürten es beide und erkannten es im Gegenüber.
Ulla drehte ihr Glas zwischen den Händen, nahm noch einen Schluck und fuhr fort: „Es ist alles, was wir kennen. Und wir alle wissen, dass es eine lange und mühsame Angelegenheit ist, sein Talent dafür zu entwickeln. Cassandra war ungeduldig und überstürzt, vielleicht sogar eingeschüchtert von dem Erbe, in welches sie hineingeboren worden war. Sie war begierig darauf, loszulegen und sich zu beweisen.“
Ulla begegnete seinem Blick und die in ihren nächsten Worten verborgene Bedeutung traf ihn wie ein Schlag mitten ins Gesicht, „Sie beschloss, eine Abkürzung zu nehmen. So wie du. Es verhalf ihr ein paar Jahre lang zu Höchstleistungen; sie hat uns alle übertroffen. Doch dann stürzte sie ab. So wie du neulich. Nur ist sie nicht wieder aufgestanden.“
Nick schluckte, doch der Kloß in seinem Hals rührte sich nicht, „Sie wurde operiert?“
„Ja“, Ludmillas Blick blieb unnachgiebig, „Sie haben es ohne ihre Zustimmung getan, oder meine. Als ich zurückkam, war sie fort. Ich brauchte ein paar Monate, um das ganze Ausmaß des Schadens zu erkennen. Sie sagten, sie müsse grundlegende Dinge neu lernen, aber mit der Zeit würde es ihr wieder gut gehen. Grundlegende Dinge wie in einer geraden Linie gehen.“
Nick nickte, „Verlust der räumlichen Wahrnehmung.“
„Sie hat ein wenig davon wiedererlangt, doch das Wichtigste war verloren. Sie saß nur noch am Fenster und starrte auf die Sterne. Sie weinte, sobald ich ihr die Sicht versperrte. Es gab keine Freude mehr in ihr, keine Motivation zu essen, zu trinken, oder irgendetwas anderes zu tun … ihr Belohnungssystem war komplett zerstört, und damit auch ihre Persönlichkeit“, die Gefühllosigkeit tiefer Trauer huschte über Ullas Gesicht, als sie sich abwandte, um ein paar willkürliche Linien auf das Fenster zu zeichnen, „Meine Cassandra war in dem Moment verloren, als sie in sie hineinschnitten. Was sie mir zurückgaben, war jemand anderes. Und dieser Jemand wollte nicht da sein. Dieser Jemand wollte nirgendwo sein. Ich verstehe also deine Ängste, Nick. Und ich kann dir bestätigen, dass sie absolut angebracht sind.“
Sie schaute sich um, bevor sie sanft den Kopf schüttelte, „Ich sehe doch, wie der Admiral dich behandelt. Ich habe gesehen, wie er mit der Geiselnahme umgegangen ist.“
Ihre Stimme senkte sich, „Du solltest es ihm sagen. Er wird tun, was nötig ist, sobald es nötig wird.“
„Was nötig ist?“, Nick sah sich die Akte noch einmal an.
Cassandra Ludmilla starb im Schlaf, stand da. Keine weiteren Details oder Erklärungen. Jemand hatte einen Antrag auf eine Autopsie gestellt, dieser war jedoch von einer höheren Stelle abgelehnt worden.
Ludmilla nickte.
In diesem Moment schien ein nahezu fatalistischer Ausdruck in ihrem Blick zu schimmern, halb verborgen in den Tiefen ihrer dunkelblauen Augen. Als habe sie sich längst daran gewöhnt, eine erdrückende Schuld mit sich herumzutragen, als habe sie sich damit abgefunden und sich mit dem auf ihr lastenden Gewicht schon beinahe arrangiert.
Als würde sie ihm einen flüchtigen Blick hinter den Vorhang ihres disziplinierten, überkorrekten Äußeren gewähren, um auszudrücken, was sie nicht offen sagen konnte, ohne sich selbst zu verraten.
So war sie nur seinem Urteil ausgeliefert.
Nicht, dass sie es annehmen würde.
Sie hatte ihre Entscheidung schon vor langer Zeit getroffen, war nie überführt worden, und das einzige Urteil, welches zählte, war ihr eigenes.
Oder hatte sie das?
„Ich verstehe“, Nick betrachtete ihre Hände spekulativ.
Waren sie stark genug? Waren sie damals stark genug gewesen?
Wie stark hätten sie sein müssen?
Nick schüttelte innerlich den Kopf.
Vielleicht hatte er das alles falsch gedeutet. Vielleicht las er mehr in dieses Gespräch hinein, als darin vorhanden war. Vielleicht waren ihre Bemerkungen eben nur Bemerkungen.
„Danke für dein Einfühlungsvermögen und dein Verständnis“, er hielt ihren Blick.
Ludmilla musterte ihn ein paar Sekunden lang und nickte dann.
„Es war mir ein Vergnügen“, die automatische Antwort entbehrte jeglicher echten Emotion, war nur eine abgedroschene Floskel. Ein krasser Gegensatz zu ihren vorherigen Worten. Die Frau erhob sich mit geradem Rücken und unlesbarem Gesichtsausdruck, „Man sieht sich, Nick.“
„Das hoffe ich doch“, konnte Nick sich nicht verkneifen zu erwidern.
Das kleinste Echo eines traurigen Lächelns zeichnete sich in ihren Gesichtszügen ab, als sie sich abwandte. Der Blick ihres Vorgesetzten folgte ihr, bis sie die Bar verlassen hatte.
Nick warf noch einmal einen langen Blick auf die Akte.
Neunundzwanzig.
Zum Zeitpunkt ihres Todes war Lt. Cassandra Ludmilla erst neunundzwanzig Jahre alt gewesen. Würde sie jetzt, fünf Jahre später, noch leben, wäre sie vierunddreißig. Zwei Jahre älter als Nick.
In einem Punkt hatte Ulla Ludmilla recht, sinnierte Nick, während er seinen Zeigefinger befeuchtete und damit dem Rand seines Glases folgte. Das leise Summen, welches sein Gemüt immer zu beruhigen pflegte, erklang.
Glens Hände wären stark genug. Ebenso wie sein Wille. Wenn er glaubte, dass dies wirklich Nicks Wunsch war, würde er es tun. Und der alte Mann verstand sein Handwerk. Es würde schnell und schmerzlos geschehen.
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund gab dies Nick Mut.
Seine Nerven brauchten allerdings noch einen weiteren Anstoß.
Nach drei Flaschen von Lustigs wunderbarem selbstgebrautem Bier machte sich Nick mit zwei weiteren Flaschen in der Hand auf den Weg zu seinem alten Freund.

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