Kapitel 03: THALLAMON\\ WÄCHTER UND ANDERE UNANNEHMLICHKEITEN


Primäres velorianisches Diplomatenschiff, Erdumlaufbahn 


„Gouverneur, ich habe Neuigkeiten!“, erklärte der hochgezüchtete Krieger, kaum dass Thallamon ihm Zutritt zu seinem Arbeitszimmer gewährte. Der kalte Blick, den er daraufhin erntete, ließ die Gestalt nach nur wenigen Schritten innehalten.

Thallamon beendete die Unterzeichnung der neuesten Myriade unnötiger, überbürokratischer politischer Fregogg-Scheiße, welche er zuvor gelesen hatte, und legte den Stylus zurück in dessen Halterung, während er mit ruhiger Stimme informierte: „Ruffa, das Thema hatten wir schon. Sie wissen, dass ich mich nur ungern wiederhole.“

„Nun, Sie sind der Gouverneur des menschlichen Raums“, eröffnete der andere die altbekannte Diskussion. Da er in erster Linie Krieger und nicht Politiker war, räumte er Rang, Würde und der korrekten Einhaltung von Protokollen einen besonders hohen Stellenwert ein. Alles schön und gut, doch in diesem Fall unangebracht.

„Allerdings, und ich bin mir dessen bewusst, ohne dass Sie mich fortwährend daran erinnern“, die scharfe Note in Thallamons Tonfall hätte einen Geringeren in die Knie gezwungen, „Doch so sehen es die Menschen nicht, und solange wir ihren kindischen Unsinn mitmachen“, er wackelte zur Betonung mit einem ihrer albernen synthetischen Blätter, „darf dieser Titel nicht verwendet werden. Ich wünsche nicht, dass sich jemand eine schlechte Angewohnheit aneignet und in einem entscheidenden Moment fehltritt.“

„Aber der Oberste Regent–“

„… darf mich nennen, wie er will“, Thallamon beugte sich vor. Genauso wie sein Adjutant war er ein exzellentes körperliches Exemplar, welches sich seiner imposanten Statur durchaus bewusst war und diese bei Bedarf zur optimalen Einschüchterung einzusetzen wusste, „Und kein Mensch wird es je erfahren. Sie, so unerfreulich das auch sein mag, sind verpflichtet, mich zu diesen überflüssigen Ausflügen zu begleiten, daher sind Ihnen solche Fauxpas in keinster Weise erlaubt. Haben Sie mich verstanden, Ruffa?“

„Natürlich … Botschafter“, in Ruffas dunkler Stimme mischte sich ein Hauch von Einverständnis mit der zweitklassigen Imitation von Bedauern.

Der Krieger wusste den Wert der Diplomatie nicht so recht zu schätzen. Wie so viele ihrer Rasse folgte er dem Vorbild ihrer früheren Herren, ungeachtet der Tatsache, dass ein derartiges Vertrauen in die eigene Überlegenheit nur so lange haltbar blieb, wie es von den Mitteln, anderen diese Ansicht aufzuzwingen, begleitet wurde. Ruffa und seinesgleichen entzog sich die Erkenntnis, dass dieses Sonnensystem ein anderes Spielfeld darstellte und andere Verhaltensregeln erforderte. Selbst angesichts ihrer technologischen Unterlegenheit war die Menschheit genauso blind für die eigene Selbstgefälligkeit wie der Großteil der velorianischen Gesellschaft, und es lag an denjenigen, die mit ihr verkehrten, ihre Augen vor der Wahrheit abzuschirmen. 

Menschen waren lediglich Schafe, welche glaubten, mit ihren Bauern auf Augenhöhe zu verhandeln. Und glückliche Schafe waren gefügige Schafe. Es machte das Scheren effizienter und weniger kostspielig.

Und so verschleierte Thallamon seinen offiziellen Posten „Gouverneur des menschlichen Raums“, auf welchen er durch die Gnade Seiner Majestät, des Obersten Regenten Vosteral III, eingesetzt worden war zugunsten des Titels „Primärer velorianischer Botschafter“. Es machte die Dinge einfacher. 

Thallamon lehnte sich zurück und winkte seinen Untergebenen näher heran, „Was sind nun diese Neuigkeiten?“

Der große, stämmige Krieger überbrückte die Distanz zum Schreibtisch seines Vorgesetzten und reichte ihm einen kleinen Datenkristall, welchen Thallamon in die Displaystation einlegte.

Während Ruffa die Einzelheiten aus dem Bericht eines einfachen Händlers über die Begegnung mit jenem seltsamen Schiff, nach welchem Thallamon fahnden ließ, vortrug, studierte der Botschafter die dazugehörigen, sich über seinem Schreibtisch abspielenden Kameraaufzeichnungen.

Was für eine enttäuschende Niederlage. Doch dafür mochte es gute Gründe geben. Schließlich fehlte in seiner Gleichung immer noch eine Variable …

„Irgendein Hinweis auf die Wächterin?“, erkundigte sich Thallamon, nachdem Ruffa seine Ausführungen beendete.

Der Krieger verschränkte beide Hände vor seinem muskulösen Bauch. Auf den ersten Blick gesehen eine simple Geste der Ignoranz, welche im Militär ihres Planeten weite Verbreitung fand. Thallamon jedoch wusste diese deutlich nuancierter zu interpretieren. Es war zugleich eine subtile Andeutung von Unzufriedenheit und Ablehnung.

Ruffa hatte in ihrer Heimat eine vielversprechende Karriere, erbaut auf den exzellenten Genen seiner Familie und seiner eigenen Intelligenz, Disziplin und Tapferkeit, gegen das eingetauscht, was er als einfachen, gut bezahlten Posten in einem System reif für die Plünderung eingestuft hatte. Nur um festzustellen, dass sein neuer Vorgesetzter – die einzige Person von höherem Rang und Reinheit im ganzen System – sich anspruchsvoll in der Aufgabenverteilung zeigte und geradezu allergisch auf alles reagierte, was Ruffa als Spaß empfand. Statt eine Flotte zu kommandieren, fand er sich auf die Rolle eines verherrlichten Adjutanten und Leibwächters beschränkt und wurde an jeder Ecke und unter Androhung des Todes daran erinnert, niemals übermäßig Aufmerksamkeit zu erregen. Niemals Aufmerksamkeit zu erregen, war nicht das, was eine Karriere beim Militär ausmachte. 

Es blieb unklar, ob Ruffa in Ignoranz oder aus Absicht direkt unter Thallamons Nase platziert worden war, doch wer auch immer seinerzeit den Auftrag dazu erteilte, hatte ihnen beiden keinen Gefallen erwiesen.

Oder vielleicht doch. 

Ruffas Anwesenheit erinnerte Thallamon täglich daran, was seine Arbeit in diesem System so eminent wichtig machte, ungeachtet der verblüffenden Stumpfsinnigkeit und technischen Barbarei, wie sie in den höheren Rängen der menschlichen Gesellschaft, in welcher er sich zurechtfinden musste, grassierten. Thallamon war kein Narr. Egal wie rückständig diese Menschen waren, man durfte sie nicht unterschätzen. Hochmut hatte Veloria von der unbestrittenen Meisterin der Gentechnik, welche auf dem Höhepunkt ihres Könnens durch ihre Unentbehrlichkeit die Freiheit von der Sklaverei erkaufte, in eine Situation gebracht, in der ihre Zukunft von Kreaturen abhing, welche in Scharen von ihrer Heimatwelt flohen, da sie diese über ihre Möglichkeiten der Reparatur hinaus vergiftet hatten … All das, während ihre Politiker, ihre so genannten „Staatsoberhäupter“, sich weiterhin an die letzten Fetzen obsolenter Ämter klammerten, unwillig loszulassen oder die notwendigen taktischen Änderungen umzusetzen, welche für einen Wiederaufbau ihrer sterbenden Welt erforderlich wären.

Eine weitere wertvolle tägliche Erinnerung für Thallamon. Die Gründe für Velorias Probleme mochten andere sein, doch die daraus resultierende Notlage verhielt sich erschreckend ähnlich.

„In den Berichten des Händlers fand sich nichts, was eine Beteiligung der Wächterin bestätigen oder wiederlegen würde“, berichtete der Krieger, „Erst vor wenigen Tagen wurde sie auf Venus-21 gesichtet, doch meiner Einschätzung nach handelt es sich hierbei um ein Ablenkungsmanöver. Tatsächlich konnte keine lebende Person bestätigen, sie dort gesehen zu haben. Ich vermute daher, dass es sich um einen digitalen Schwindel handelt.“

Thallamon nickte. Was auch immer er über die Neigung und den Charakter seines Gegenübers denken mochte, Ruffa war fähig und intelligent. Man hielt ihn am besten möglichst nah und sinnvoll beschäftigt, so sehr sie beide das auch zuweilen verärgerte. Alles andere war einfach zu riskant.

„Dieses Schiffsdesign …“, Thallamon deutete auf ein Standbild. Es war geringfügig besser als das Bildmaterial, welches sie im Anschluss an die anderen Begegnungen hatten sicherstellen können, „Es erinnert mich an etwas.“

Der Botschafter klimperte mit den Fingerspitzen auf dem Schreibtisch, eine Angewohnheit, welche er sich in seinem Bestreben, die Menschen zu imitieren, damit diese sich in seiner Gegenwart wohler fühlten, angeeignet hatte. Diese Assimilation fremder Rituale, Gesten und Sprachen war Teil des Preises, welchen er in seinem Bestreben, dem großen Bedürfnis zu dienen, zahlte.

Als Experte für Militärschiffe identifizierte Ruffa einige der Merkmale und gab Beispiele für andere Konstruktionen, denen dieses Schiff ähneln könnte. Eine fruchtlose Übung. Keines der von Ruffa präsentierten Bilder konnte den Juckreiz hinter Thallamons Ohren lindern. 

Als Ruffa dies erkannte, erklärte er schließlich: „Auf jeden Fall sieht es keinem der uns bekannten Wächterschiffe ähnlich.“

„Nein, das tut es nicht …“, Thallamon spulte die Aufzeichnung bis zu dem Moment zurück, als eine der Strahlenwaffen das seltsame Schiff traf und betrachtete den Effekt in Zeitlupe, „Doch diese Hülle ist zweifellos mit einer derivativen Version der Haslar-Kristalltechnologie beschichtet, auch wenn das Design keinem regulären Haslar-Modell ähnelt.“

„Nein, das ist kein Haslar-Modell“, stimmte Ruffa zu und beugte sich etwas vor, um einen genaueren Blick darauf zu werfen, „Die Bewaffnung scheint menschliche Geschosse zu verwenden, doch ihre Strahlenwaffen sind zu stark, um aus diesem System zu stammen. Die Antriebe sind eine Kombination aus Menschen- und Käfertechnologie.“

Das Volk der Shirrith, welches weithin nur durch die derivative Beschreibung seiner biologischen Natur und für die Tatsache bekannt war, dass es aufgrund seiner herausragenden technischen Fähigkeiten die seit langem bevorzugte Sklavenrasse der Haslar war, hatte zweifelsohne nichts mit diesem seltsamen Stück Technologie zu tun.

Nein, der hier sichtbare Einfluss ihres Volkes erhärtete lediglich Thallamons Verdacht. Dieses Schiff war nicht von Menschen konzipiert worden. Zumindest nicht vollständig. Irgendwie hatten diese rückständigen Aliens Wissen von jenseits des Tores erlangt und diesen Prototyp gebaut, welcher Aspekte von überall her miteinander vermischte. Der Energiebedarf, die Bewaffnung und die kurze Reisezeit deuteten auf ein weiteres Problem hin.

„Gerro“, lenkte Thallamon die Aufmerksamkeit seiner Wache auf sich, „Führen Sie Ihre Klone nach draußen.“

Ohne sichtbare Zeichen von Emotionen oder Nachfrage verließen die sechs Gestalten sein Arbeitszimmer, und die Tür schloss sich lautlos hinter ihnen. Etwas funkelte in Ruffas Blick, als er sie gehen sah. Als wäge er seine Optionen ab …

An manchen Tagen hoffte Thallamon geradezu, er würde es versuchen. 

Heute war nicht so ein Tag.

„Ruffa, lassen Sie jemanden die neuen Aufnahmen mit allen Marken und Modellen im bekannten Universum, also im Haslarraum UND in den freien Sektoren abgleichen!“, befahl Thallamon, „Ich will wissen, woran mich das erinnert.“

Ruffa nickte knapp. Er hatte ebenfalls beschlossen, dass dies nicht der geeignete Zeitpunkt war.

„Jetzt hören Sie gut zu. Ich werde keine Abweichungen von diesen Befehlen dulden. Es liegt in Ihrer Verantwortung, sie umzusetzen“, der Botschafter hielt den Blick des anderen.

Ruffas Augen waren hart und von gedämpfter, wenn auch satter Farbe, das Muster darin deutlich abgegrenzt und täuschend eindimensional.

„Es mögen fadenscheinige Hinweise darauf vorliegen, dass die Wächterin und die Ehrenwerte an Bord dieses Schiffes sein könnten, vielleicht sogar an dessen Entstehung beteiligt waren, doch es gibt keine Beweise dafür. Da es keine Beweise gibt, begründet dies glaubwürdige Unwissenheit. Ich werde also behaupten, keine Ahnung gehabt zu haben, dass überhaupt diese Möglichkeit bestand. Ich erwarte, dass Sie dafür sorgen, dass niemand einen Grund hat, etwas anderes zu vermuten.“

„Verstanden, Herr Botschafter“, Ruffa nickte erneut. Dieselbe Denkweise, welche ihn dazu brachte, Thallamons Strategie zu widersprechen, verknüpfte auch seine Ehre mit der seines Vorgesetzten und machte die optimale Ausführung jedes erteilten Auftrags zur einzigen Möglichkeit, seinen Ruf zu wahren.

„Und jetzt beauftragen Sie den Kapitän dieser Ruja, seinen fregogg-verlassenen Job zu machen und mir dieses Schiff aufzubringen! Wenn es zu schwer zu fangen ist, soll er es zerstören. Schicken Sie ihm mehr Freibeuter zur Hilfe, falls nötig. Die Kosten sind vernachlässigbar, das Ergebnis ist das einzig Entscheidende! Sagen Sie ihm dennoch, dass wir nur die Hälfte für einen schwebenden Schrotthaufen zahlen. Das sollte einen ausreichenden Anreiz darstellen. Des Weiteren ist es absolut notwendig, dieses Ziel im neptunischen Raum zu erreichen. Die Plutonier sind mir bereits ein Dorn im Auge und ich brauche kein weiteres Feuer an dieser Front. Es ist den Aufwand einfach nicht wert.“

Thallamons Blick bohrte sich tief in Ruffas, „Haben Sie das alles verstanden?“

„Natürlich.“

„Gut.“

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