Kapitel 04: NICK\\ DEN VERSTAND VERLIEREN
Sieben Wochen zuvor
„Und weißt du, was sie da gesagt hat?“, der alte Wolf spielte die erinnerte Empörung zum Zwecke der Erzählung hoch.
„Nein“, lachte Nick, „was?“
Die Kombination aus Alkohol, guter Gesellschaft und Schmerztabletten machte ihn langsam schläfrig. Er sollte beides wirklich nicht mischen. Doch die Medizin half, den Schmerz in seinem Kopf zu betäuben, sodass er morgens leichter aus dem Bett kam, während der Alkohol den durch einen weiteren Tag ohne Fliegen verursachten Juckreiz dämpfte. … Und es ihm hoffentlich ermöglichen würde, seinem Freund endlich den Grund für die Schmerzen zu beichten. Falls sie denn noch mal darauf zu sprechen kämen, warum er ihn überhaupt aufgesucht hatte.
Glen gestikulierte großspurig, „Sie sagte – und ich zitiere – ‚Bei allem Respekt, Kapitän, aber da Sie mich damit beauftragten, Sie über den Zustand des Schiffes UND seiner Besatzung zu beraten, ist es mir ein Bedürfnis, Sie darauf hinzuweisen, dass der Kapitän offenbar stark aus der Form geraten ist und zweifelsohne von einem täglichen Ausdauertraining profitieren würde‘!“
Der Admiral machte ein übermäßig verblüfftes Gesicht, welches er in der von ihm beschriebenen Szene wahrscheinlich sicher hinter seinem üblichen Pokerface verborgen gehalten hatte.
Nick brach in schallendes Gelächter aus.
Nach ein oder zwei Minuten wischte er sich mit den Ärmeln seines Shirts übers Gesicht und schnappte nach genügend Luft, um sich zu vergewissern: „Sie will, dass du joggen gehst?“
„Nicht nur das!“, Glen seufzte, „Sie hat einen detaillierten Trainingsplan aufgestellt und will mich jeden Tag vor der Arbeit treffen, um mich daran zu halten! Was glaubt sie, wer sie ist?“
„Ähm … deine Lehrerin und Beschützerin?“, Nick hob vielsagend eine Augenbraue, „Und du hast von ihr im Gegenzug ein sehr schönes Schiff bekommen …“
„Richtig. Nun“, Glen grinste, „das stimmt. Und sie hat recht; ich bin furchtbar aus der Übung. Also ließ ich mich darauf ein. Aber nur unter der Bedingung, dass sie mir Sachen beibringt, während wir wie defekte Drohnen auf dem Schiff hin- und herrennen.“
Dieses Kopfkino ließ Nick kichern.
Als Glen den Whiskeytumbler seines Freundes zum dritten Mal an diesem Abend auffüllen wollte, legte dieser eine Hand darüber.
Die beiden Biere waren schon vor einer Stunde geleert worden und die Flasche in Glens Hand halbleer. Wenn Nick weiter trank, würde seine Verfassung von ‚entspannt und bereit, die Wahrheit auszuplaudern‘ zu ‚zu betrunken, um einen zusammenhängenden Satz zu formulieren‘ kippen. Nein, kein Herumalbern mehr. Es war Zeit für sein Geständnis.
Glen bemerkte die plötzliche Veränderung, zog die Flasche zurück und verzichtete darauf, seinen eigenen Tumbler nachzufüllen.
„Also“, fragte er, „worüber wolltest du eigentlich zu dieser späten Stunde mit mir reden?“
„Ich sterbe, Glen. Ich hab Krebs. In meinem Gehirn. Sie nennen es ‚Pilotenkrankheit‘“, sprudelte es aus Nick heraus, „Ich sollte eigentlich schon längst tot sein, aber Gabe tut Dinge, um es hinauszuzögern. Darin ist er wirklich gut. Ich will gar nicht wissen, was für einen experimentellen Scheiß er an mir ausprobiert, wenn ich nicht hinschaue.“
Er seufzte. „Hör zu. Ich … ich hatte einen Schlaganfall auf der Brücke. Es … es sind die Implantate. Sie … zerstören mein Gehirn. Es gibt keine Behandlung. Es ist nur eine Frage der Zeit. Im Grunde warte ich schon seit Jahren auf das Ende. Ich… Deshalb wollte ich zuerst nicht an der Mission teilnehmen. Ich … ich dachte, es wäre falsch, dich dem auszusetzen. Du hast immer noch um deine Frau getrauert und … Verdammt, genau deshalb wollte ich nicht … Ich … Ich komm nicht damit klar, dich im Stich zu lassen! Und ich hatte Angst, du würdest mich zu einem richtigen Arzt schicken. Das … wäre noch schlimmer, als abzuwarten und so zu tun, als wäre alles in Ordnung.“
Es laut auszusprechen bewirkte, dass sein ganzer Körper angesichts der Realität seines bevorstehenden Ablebens schmerzte. Sein Verstand hingegen beruhigte sich in Anbetracht der Tatsache, dass er dem einzigen Menschen, welcher ihm etwas bedeutete, endlich die Wahrheit sagen konnte. Der einzigen Person, welche von seinem Schicksal betroffen wäre und sich tatsächlich für sein Wohlbefinden interessierte.
Der alte Mann starrte ihn an. Ein Wechselspiel subtiler Emotionen lief über sein wettergegerbtes Gesicht, während seine knorrigen Hände mitten in dem Vorhaben erstarrten, den Korken zurück in die Flasche zu schieben.
Schließlich zog er diesen erneut heraus, füllte seinen Tumbler mit einer großzügigen Menge der bernsteinfarbenen Flüssigkeit und leerte ihn in einem Zug. Dann stellte er Flasche und Glas beiseite und faltete die Hände auf seinem Schreibtisch.
„Wie lange?“, fragte er mit ungewöhnlich rauer Stimme.
„Ich weiß nicht“, Nick schüttelte den Kopf, „Seit ich an Bord bin, geht es mir besser, aber dann hatte ich den Schlaganfall, also … ich weiß es nicht. Gabe kann es auch nicht sagen. Es scheint, dass die Berechnung eines Hirnschadens nicht besonders einfach ist, und um ehrlich zu sein …“, Nick pulte etwas imaginären Schmutz unter den Fingernägeln hervor, „Ich frage schon lange nicht mehr. Ich will es gar nicht wissen. Ich dachte, vielleicht … vielleicht habe ich Glück und wache eines Morgens einfach nicht mehr auf, weißt du?“
Glen starrte ihn einen weiteren, ewigen Moment lang an. Obgleich er es nicht wagte, ihnen zu begegnen, spürte Nick, wie sich diese smaragdgrünen Augen wie Laser in ihn bohrten.
Abrupt stand der Admiral auf und schritt ein paar Mal in seinem Büro auf und ab, bevor er auf den WaDis zusteuerte. Mit zwei Gläsern Wasser kam er zurück, stellte sie behutsam auf seinem Schreibtisch ab und schob Nick eines hinüber, während er sich erneut in seinem Stuhl niederließ und fragte: „Also, damit ich das richtig verstehe. Das ist wegen der Implantate?“
„Ja“, Nick nickte.
„Aber du hast die doch schon seit“, Glen machte eine Pause, um kurz nachzurechnen, „sechzehn Jahren?“
„Ja.“
Gute Güte …, stellte Nick erschrocken fest, Zu diesem Zeitpunkt trage ich sie bereits die Hälfte meines Lebens in mir. Ich liege schon mein halbes Leben lang im Sterben.
Was für ein Gedanke!
Aber ging das nicht jedem so? War der Tod nicht das unvermeidliche Ergebnis allen Lebens?
„Wussten sie, dass das passieren würde?“, Glens Tonfall verfinsterte sich, als ob er darüber nachdachte, diesen Arschloch-Wissenschaftlern, welche auf dem Höhepunkt des Krieges beschlossen hatten, das Leben von ein paar hundert Kindern aufs Spiel zu setzen, um dem Erdmilitär einen Vorteil bei der Schiffsnavigation zu verschaffen, schlimme Dinge anzutun.
„Gute Frage“, Nick nahm das Glas in beide Hände und bestaunte die durchsichtige Schönheit der Flüssigkeit, von der alles menschliche Leben abhing, „Ich weiß es nicht. Ich schätze … ich möchte glauben, dass sie es nicht wussten. Dass sie vielleicht ein kalkuliertes Risiko eingegangen sind, ohne zu ahnen, dass sie damit langfristig Mord begehen würden. Dann komm ich mir nicht so dumm vor.“
Der alte Mann grummelte etwas vor sich hin. Wahrscheinlich einen besonders bildlichen Fluch.
„Warum hast du sie nicht entfernen lassen? Sobald du es wusstest?“
Nick schüttelte den Kopf.
„Das haben sie mit anderen Piloten gemacht. Mit denen, die keinen tötlichen Schlaganfall erlitten haben. Deshalb hatte ich Angst, dass du mich zu einem Arzt schickst. Weißt du …“, Nick verschränkte die Finger, um zu verdeutlichen, was er meinte, „Es funktionierte nur bei jungen Gehirnen, da die Technologie erst einwachsen muss. Das Problem ist, wenn etwas, das so tief integriert ist, überall Krebs verbreitet, bedeutet das Herausschneiden …“
Nick schluckte und krümmte die Finger der einen Hand, während er die andere von ihnen wegzog.
Glen starrte darauf und nickte. Er verstand, was gemeint war.
„Scheiße.“
Nick konnte dem nur zustimmen.
„Würdest du trotzdem in Erwägung ziehen, zumindest Felicitys Meinung einzuholen?“, versuchte es der alte Mann, „Sie haben einen der Tiefenscanner repariert. Vielleicht weiß sie einen anderen Weg. Vielleicht gibt es neue Entwicklungen, von denen du noch nichts gehört hast?“
Nick schüttelte den Kopf, „Gabe hält sich auf dem Laufenden. Gäbe es eine andere Behandlung, hätte er sie gefunden.“
„Aber er hält sich nur über menschliche Entwicklungen auf dem Laufenden“, der Admiral streckte eine Hand aus, um Nicks zu ergreifen, und lockerte sanft dessen Finger, „Hör mal, ich hab dir nie gesagt, was Eve eigentlich ist und tut.“
Nick runzelte die Stirn, bevor er Glens Blick begegnete, „Du sagtest, sie sei ein außerweltlicher Roboter.“
„Das ist sie. Ihr Volk nennt sich selbst ‚Wächter der großen Neutralität‘. Eves Aufgabe ist es, Wissen zu sammeln und es in eine riesige Datenbank einzuspeisen, auf welche sie ständig zugreifen kann. Wenn es auf der anderen Seite des Raumtors ein Heilmittel für so etwas gibt, könnte sie es herausfinden. Außerdem hat sie nicht nur den Zugang. Mit der technischen Expertise ihres Volkes kann sie vielleicht sogar etwas dagegen tun!“
Ja, aber …
Wollte Nick wirklich, dass ein Alien in seinem Gehirn herumstocherte? Aber konnte er eine derart einmalige Chance auf Hilfe ignorieren?
Andererseits …
„Und was würde mich das kosten? Oder dich?“, gab er zu bedenken, „Du hast bereits einen Pakt mit einer Außerweltlichen geschlossen, über die wir so gut wie nichts wissen.“
„Ich weiß, dass sie es gut meint und eine ehrliche Person ist“, Glen hielt Nicks eine Hand zwischen seinen beiden, „und da du zur Crew gehörst, sollte dich das Wissen nichts kosten.“
Nick runzelte die Stirn, „Und wenn ich das nicht täte?“
„In diesem Fall wäre es ein Austausch“, der Kapitän zuckte mit den Schultern, „Wenn du einen von ihnen triffst, darfst du normalerweise eine Frage stellen, und sie fragen im Gegenzug auch etwas. Deshalb haben die Velorianer wahrscheinlich ‚vergessen‘, uns von den Wächtern zu erzählen. Überleg mal, was wir von ihnen lernen könnten! Was wir von Eve lernen können!“
Nick leckte sich über die Lippen. Die plötzliche Vervielfältigung seiner Möglichkeiten war schwindelerregend. Doch das Kernproblem blieb … Selbst wenn Eve bessere Möglichkeiten hätte, die Implantate loszuwerden, wäre ein Großteil der Gehirnmasse immer noch zu geschädigt, um sie zu retten.
Und das bedeutete, dass sich der Anlass für sein Geständnis nicht geändert hatte.
„Okay, fein. Ich werde Felicity und Eve bitten, einen Blick darauf zu werfen“, der junge Mann schluckte schwer und versuchte, den plötzlichen Kloß in seinem Hals zu lösen, um die alles entscheidende Frage zu stellen, den einen Gefallen, um den er niemanden außer seinen engsten Freund und Mentor bitten konnte, „Aber du musst mir auch was versprechen. Für den Fall, dass es meinen Geist zerstört, bevor es meinen Körper erledigt. Falls es zu einem Punkt kommt, an dem ich es nicht mehr selbst tun kann … an dem ich vielleicht nicht mehr ich selbst bin …“
Nick schluckte wieder, „Wirst du es für mich tun? Bitte?“
Glen musterte ihn drei ewige Sekunden lang. Er war weder überrascht, noch suchte er nach Worten. Es war eher so, als haderte er mit seinem Gewissen.
Er verschränkte die Hände, stützte sein Kinn auf beide Daumen und presste die Spitzen der Zeigefinger gegen seinen Nasenrücken.
Hinter den smaragdgrünen Augen tobte der Kampf noch, als er sie schloss und langsam ausatmete. Eine gespenstische Ruhe kehrte in seine Züge ein. Wie die Ruhe vor dem Sturm. Wie wenn er alle Skrupel beiseiteschob, um einen harten Befehl zu erteilen.
Als sich seine Augen erneut öffneten, lag eine harte Überzeugung in den smaragdgrünen Tiefen. Und vielleicht fehlte ein kleines Stück seiner Seele.
Glen nickte, „Das werde ich. Ich verspreche es.“
