[Diese Kurzgeschichte spielt direkt nach den Ereignissen in HFC 04]

Nach seiner Schicht saß Ghost auf seiner Koje, starrte ungläubig auf die Datenfolie in seiner Rechten. Emotionen kochten in ihm hoch, als er den knappen Text wieder und wieder las, bis die wichtigsten Wortgruppen spöttisch vor seinen Augen tanzten. Bis sie alles waren, was von dem standardisierten Informationsschreiben übrig blieb.

“Sgt. Ermolai Ronne” und “um Sie zu informieren” und “zwei Wochen Trinkrationen gekürzt” und “außerdem gilt eine sechsmonatige Beförderungssperre”.

Die eigentliche Ohrfeige war der Satz: “Da Sie während eines Hochrisikoeinsatzes erstarrten und Anzeichen eines drohenden Nervenzusammenbruchs zeigten, hält Ihr Vorgesetzter Sie für ungeeignet, in naher Zukunft über Ihre derzeitige Position hinaus aufzusteigen”. Er ließ die Haut auf Ghosts Armen erzittern, beschleunigte seinen Herzschlag und trieb dunkle Wolken in die Ränder seines Blickfeldes.

Es waren nicht die Worte an sich. Nicht wirklich.

Er kannte den Ablauf solcher Vorgänge und wusste, dass Sergey diese Worte höchstwahrscheinlich nicht selbst formuliert hatte. Sein Vorgesetzter hatte seine Einschätzung abgegeben, eine Begründung für seine Entscheidung genannt und erklärt, was er als angemessene Strafe für den begangenen Verstoß erachtete. Irgendein ranghoher Provost, vielleicht sogar Garin selbst, hatte es abgenickt, den Strafzettel ausgefüllt und unterschrieben, und dies alles mit einer Wortklauberei so alt wie die plutonische Republik selbst.

Dem Datumsstempel in der oberen Ecke nach zu urteilen, hatte Sergey die Sache lange bevor er um seine neue Position wusste in die Wege geleitet. Von der Tatsache, dass es in der nahen Zukunft, welche durch das Beförderungsverbot abgedeckt wurde, möglicherweise viele Positionen durch seine Vertrauten zu besetzt galt.

Nein, die Bestrafung war nicht als Beleidigung gedacht.

Doch warum schmerzte es dann, als wäre es einer?

Ghost beobachtete, wie Wellen unsichtbarer Energie über seine dunkle Haut strömten und seine Präsenz dämpften. Was zufällig begonnen hatte, als er noch ein kleiner Junge war, dessen Leben davon abhing, unentdeckt zu bleiben und eins mit seiner dunklen, schmutzigen Umgebung zu werden, hatte sich inzwischen zu einem halbbewussten Prozess entwickelt. Wie schon damals schien seine Fähigkeit, unentdeckt zu bleiben, jedoch eng und untrennbar mit seinem emotionalen Zustand verbunden. Ein Grund, warum er so intensiv Selbstbeherrschung und Selbstreflexion trainierte. Dass der Infiltrator durchaus stolz auf seinen Fortschritt war, mochte der Hauptgrund für seinen momentanen Frust darstellen.

Er hatte kläglich versagt.

Das Geräusch winziger Füße in den Decken der verfluchten Piratenstation hatte ihn aus der Realität gerissen und schnurstracks in die Vergangenheit zurückgeworfen. Seinen Kampf-oder-Flucht-Instinkt bis zum Anschlag aufgedreht, war er wieder der verängstigte kleine Junge gewesen, unfähig, Vernunft oder das große Ganze zu sehen, unfähig, seinen Gegenüber klar zu verstehen. Das hatte nicht nur dazu geführt, dass er erstarrte und dadurch Mission und Kameraden gefährdete. Nein … Er hatte seinen Vorgesetzten schwer beleidigt. Seinen besten Freund. Er hatte ihn, wenn auch nicht mit so vielen Worten, ein Monster genannt.

Das war es nicht, was Sergey gestört hatte. Nach irgendwelchen regenbogenscheißenden Einhornmaßstäben waren sie alle auf ihre eigene Weise Monster. Rücksichtslose Killer und Witwenmacher. Einige der erbarmungslosesten Kampfhunde, welche das plutonische Militär zu bieten hatte.

Nach ihren eigenen Maßstäben waren sie ganz normale Männer, die ihren Job machten.

Nein, die Beleidigung lag in der Art des Monsters, das impliziert wurde. Ein unentschuldbarer Fehltritt.

In Anbetracht der Umstände war Sergey ziemlich ruhig geblieben. Hätte er Ghost mit seiner metallenen Rechten die Fresse eingeschlagen, hätten die meisten ihrer Kameraden den Impuls verstanden. Der Gedanke an Sergeys Zurückhaltung, sowohl bei seiner unmittelbaren Reaktion als auch in der Wahl der Bestrafung, ließ Ghost sich noch schlechter fühlen. Seine Glieder begannen leicht zu kribbeln und seine Farbwahrnehmung verdunkelte sich, was die fünf einfachen, zweistöckigen Kojen – auf einer davon saß er – und den kleinen Tisch in der Mitte des Raumes optisch auslaugte.

“Ich glaube nicht, dass es persönlich gemeint ist”, ertönte eine ruhige Männerstimme aus der oberen Koje.

Scheiße, er hat gedacht, er wäre allein …

Ghost blickte hoch. Doch natürlich war da nichts weiter zu sehen als die massive, an der Wand verankerte Platte. Vorhin hatte er darauf eine dunkle Form wahrgenommen, bei der es sich genauso gut um zerknüllte Decken hätte handeln können. Irgendein ferner Teil seines Verstandes hatte das als einen tadelnswerten Mangel an Ordnung empfunden. Der Rest seines Verstandes war zu sehr mit seiner eigenen Bestrafung beschäftigt, um sich darum zu scheren.

“Doch das weißt du”, fuhr Jake Echohawk in einem geschmeidigen Plauderton fort, als auf seine erste Bemerkung keine Antwort kam.

Natürlich weiß ich das, verdammt noch mal!, dachte Ghost, Ich kenne ihn schon eine Ewigkeit; du bist erst seit ein paar Monaten dabei!

Doch er sagte es nicht. Es machte ohnehin keinen Unterschied. Wenn er so weit verschleiert war, hörte ihn sowieso niemand mehr. Tatsächlich war das seine größte Angst. Dass er eines Tages einfach aus diesem Leben verblassen würde, aus der Realität selbst. An einen Ort rutschte, an dem ihn niemand sah oder hörte. Wo niemand überhaupt wüsste, dass er einmal existierte. Wo er schreien und toben könnte und die Leute einfach durch ihn hindurchliefen, unbehelligt von seiner Anwesenheit und ohne von seinen Mätzchen etwas mitzubekommen. Dass er eines Tages wirklich ein Geist werden würde.

Die weitere Erregung dieses Albtraums laugte die letzten verbliebenen Farben aus dem schwach beleuchteten Raum. Die Bilder und Illustrationen, welche Quansah an der Wand neben seiner Koje aufgehängt hatte, wirkten wie alte Schwarz-Weiß-Bilder. Seine Familie nur eine Ansammlung dunkler Flecken auf weißem Grund.

Ghost schluckte, als Panik in ihm aufstieg und seine Brust einschnürte. Obgleich ihn die plötzliche Klaustrophobie wie ein Vorschlaghammer traf, fühlte er sich unfähig, sich zu bewegen, um von der Koje in den offenen Raum in der Zimmermitte zu rutschen.

Eine quälende Ewigkeit herrschte Stille, bevor Jake sich bewegte, von seinem Schlafplatz rollte und wie ein Ninja geduckt auf dem Boden vor Ghosts Koje landete. Er trug eine locker sitzende, dunkle Hose, sonst nichts. Mit geneigtem Kopf, als würde er auf etwas lauschen, ließ der jüngere Mann seine Augen durch die Schatten in der unteren Koje schweifen. All die kleinen Muskeln unter seinen Augen bewegten sich, als diese sich zu Schlitzen verengten. Die dunklen, weiß hinterlegten Kreise zoomten mehrmals aus und ein und streiften den anderen Mann unsehend. Einen Moment lang brodelte eine eigentümliche Neugierde in Ghost auf. Wenn er eine Hand ausstreckte, würde sie durch seinen Stellvertreter hindurchgehen? Wie unbezahlbar wäre der Gesichtsausdruck des anderen Infiltrators, wenn er ihn jetzt auf seinen Hintern stoßen würde?

Der Gedanke war kurz und flüchtig und ging in der unerwarteten Panik unter wie ein Papierschiffchen im Haupteinlass der Abfallentsorgungsanlage einer Raumstation. Trotzdem lockerte sich die Anspannung in Ghosts Brust ein wenig.

Als er einen langen, flachen Atemzug nahm, entspannte sich auch Jake etwas und richtete sich langsam auf. Er griff unter seine Matratze und seine Hand kehrte mit einem großen Kartenspiel zurück.

“Ich habe nie an Magie geglaubt, weißt du”, der schlanke Mann zog den nächstgelegenen Stuhl am Tisch heraus und setzte sich so, dass seine Silhouette zur Hälfte zwischen Ghost und der Tischplatte ausgerichtet war, auf welcher er mit flinken Fingern die Karten zu mischen begann. Ihm dabei zuzusehen war sonderbar fesselnd, ja geradezu entspannend. Von dem anderen Mann ging eine angenehme Ruhe aus, ähnlich einer warmen Brise, welche aus einem Heizungsraum weht.

“Meine Oma hat mir viel erzählt”, ein leises Lachen, “über alle möglichen Kreaturen, Legenden, … die Geister der Ahnen”, er sah von seinen Fingern auf und direkt in Ghosts Augen, “Ich glaubte nie etwas davon. Ich meine, sicher… man hört vom seltsamen Wissen der Voidpriester, sieht diese ‘Kriegsmagier’ in Vids, aber… das ist alles so… weit weg. Es fühlt sich so unecht an, mit all dem Drama und so. Aber das Mädchen… Du hast gesehen, was sie im Hangar angestellt hat. Das war schon was. Das lässt mich über all diese Geschichten zweimal nachdenken.”

Jake stoppte seine Worte und lauschte. Ghost spürte, wie sein Herzschlag sich beruhigte und die Enge in seiner Brust nur noch den Überbleibseln eines schlechten Druckausgleichs im Raumanzug ähnelte. Ein wenig Farbe kehrte zurück, die Haut des anderen Mannes nahm eine verblasste Version ihres üblichen kupferfarbenen Tons an.

Mit einem Nicken fuhr Jake fort, den Blick wieder auf seine mischenden Hände gerichtet: “Sie hatte auch eine über einen unsichtbaren Mann. Er war keineswegs wie du. Wenn ich mich recht erinnere, war er ein Sterblicher aus alten Zeiten, der etwas getan hatte, was den Trickster-Gott erzürnte. Und da er der beste Jäger seines Dorfes war, stolz darauf, sich unbemerkt an seine ahnungslose Beute heranzuschleichen und sie aus heiterem Himmel zu töten, beschloss der Gott, diesen Stolz mit einem bösartigen Geschenk zu vergelten: Er sorgte dafür, dass niemand den Jäger sehen, hören oder berühren konnte. Der arme Sterbliche war überglücklich über dieses Geschenk, denn er ahnte nicht, dass es nicht nur für seine Feinde und seine Beute galt. Nie wieder würde er von denjenigen gehört, gesehen oder berührt werden können, die er liebte und die ihm etwas bedeuteten. Nur sein Zwillingsbruder merkte noch, wenn er in der Nähe war. Er saß da und lauschte auf seinen Herzschlag und konnte manchmal gerade noch seinen Atem spüren. In diesen Momenten versuchte der Bruder, mit dem Jäger zu reden, ihn mit langen Geschichten und gemeinsamen Erinnerungen zu unterhalten, um den Schmerz zu lindern, von dem er sicher war, dass sein Bruder ihn fühlte. Doch vergeblich. Eines Tages ging der Jäger fort, und niemand konnte sagen, wohin. Ob er sich entschlossen hatte, seine schreckliche Halbexistenz zu beenden, oder ob er vielleicht auf alle Ewigkeit ziellos durch die Welt irrt, auf der Suche nach jemandem, den er berühren und mit dem er reden kann.”

Ghost war sich nicht sicher, was es mit der Stimme oder der Geschichte des anderen Mannes auf sich hatte, das ihn immer ruhiger werden ließ, doch aus irgendeinem unerklärlichen Grund spürte er, wie sein Geist mehr und mehr in sich selbst zurückfand. Schließlich fiel ihm das Atmen wieder leicht und trotz des anhaltenden Dämmerlichts erstrahlte der Raum erneut in voller Farbe. Scham überkam ihn. Wie hatte ihm das nur passieren können? Er war dem, was auch immer auf der anderen Seite seiner Gabe lag, noch nie so nahe gekommen. Und es jagte ihm eine Heidenangst ein. Wieso hatte er das nur zugelassen?

Zum Glück drängte Jake nicht. Stattdessen drehte er sich mit dem Gesicht zum Tisch und zählte langsam Karten auf zwei Stapeln zu je dreizehn Stück ab. Erst als Ghost auf die vordere Lippe der Koje rückte, fragte er: “Also, Boss, hast du Lust auf Rommé? Ist doch ein nettes, entspannendes Spiel, oder?”

Sein Vorgesetzter räusperte sich und stand auf, um hinüberzugehen: “Sicher. Zwei Münzen?”

“Das kann ich decken.”

Jake überließ ihm die Wahl der Stapel und sie spielten ein halbes Spiel, bevor Ghost schließlich murmelte: “Wäre schon peinlich gewesen, hättest du grad nur mit der Luft geredet.”

Sein Zweiter grinste auf diese herausfordernde Art, welche Sergey in den falschen Momenten schlichtweg auf die Palme zu jagen vermochte: “Ich habe dich reinkommen hören. Ich habe gehört, wie du erst … wütend wurdest und dann … ich weiß auch nicht. Um ehrlich zu sein, hat es mir eine Gänsehaut eingejagt. Du bist sonst immer so ruhig und gefasst.”

Aber wie hatte er das angestellt?

Ghost blickte von seinem Blatt auf, studierte den anderen Mann wortlos. Auf Jakes nacktem Oberkörper prangte ein wunderschönes Tattoo mit mehreren Rosen, deren Blütenblätter in einem unsichtbaren Wind davonwehten, welches sich um seine Schulter schlängelte und seine linke Brust, seinen Rücken und seinen Bizeps bedeckte. Auf seinem rechten Arm befand sich eine äußerst realistische Darstellung eines Falken, der auf einem Ast saß und kritisch in die Welt starrte.

Schließlich ließ Jake die Karten sinken und zeigte auf sein rechtes Ohr: “Meine kleine Schwester wurde blind geboren. Sie hat mir beigebracht, wie man zuhört. Die meisten Menschen machen sich nie die Mühe. Sie merken nicht, was ihnen entgeht, wenn sie sich darauf verlassen, dass ihre Augen ihre Welt für sie malen. Sie lernen nie, still genug zu sein, um die subtilen Verschiebungen in der Luft wahrzunehmen.”

“Verstehe”, Ghost nahm den Karo-Buben vom Ablagestapel. Noch zwei Karten und er hatte eine volle Straße.

Er war schon immer davon überzeugt gewesen, dass Echohawk irgendwie besonders war. Seine Testergebnisse waren durchweg exzellent und er war hochmotiviert und mit den besten Empfehlungen zu ihrem Platoon gestoßen. Außerdem bildete seine umgängliche Art einen angenehmen Kontrast zu der stoischen Weltanschauung des oft wortkargen, älteren Mannes. Sie bildeten ein gutes Team, auch wenn sie kaum etwas übereinander wussten.

“Warum bist du hier?”, Ghost hatte diese Frage bereits bei ihrem ersten Treffen gestellt, und Jake hatte ihm irgendeine abgedroschene, schnell vergessene Plattitüde aufgetischt.

Diesmal wollte er die Wahrheit.

Jake zog eine Karte, grübelte ein paar Sekunden und legte sie dann ab. Herz-Fünf. “Willst du die kurze oder die lange Version?”

“Gib mir die kurze Version der ganzen Geschichte.”

“Ich habe einen Mann getötet”, Echohawks Tonfall wirkte nachdenklich, “einen einflussreichen, wohlhabenden Mann. Zumindest in seinem kleinen Teil der Leere. Aufgrund der Umstände hätte niemand die Provosts gerufen, doch ich musste für eine Weile untertauchen. Um den Druck von meiner Familie zu nehmen. Also ging ich zum Militär und stellte fest, dass es mir zusagte. Dort konnte ich mich endlich als nützlich erweisen. Zum Leidwesen meines Vaters war ich nie gut in Sachen Bergbau oder Buchführung.”

Richtig, Ghost erinnerte sich daran, in Echohawks Akte gelesen zu haben, dass er seine Jugend auf einem kleinen nomadischen Bergbauschiff außerhalb der plutonischen Republik verbracht hatte und noch im Begriff war, ein vollwertiger Bürger zu werden. Er hatte also in seiner Jugend nie die obligatorische militärische Ausbildung genossen. Nach der dreijährigen Grundausbildung begann er die Spezialausbildung zum Infiltrator, welche er in bemerkenswerten eineinhalb Jahren abschloss. Mehrere Jahre Dienst in einem anderen Regiment folgten. Eine steile Karriere mit schnellen Beförderungen. Echohawk war das absolute Gegenteil von den üblichen Übeltätern und Querschlägern, welche Col. Phoenix sonst so gerne in ihrem Platoon ablud.

Der Truppführer ließ die Fünf auf dem Ablagestapel liegen und zog eine neue Karte.

“Ich hatte immer noch das Gefühl, dass mir etwas fehlte, dass ich nicht ganz gefunden hatte, wonach ich suchte,” fuhr Jake fort, “Eines Tages hörte ich von einem Mann, der so gut darin war, ungesehen zu bleiben, dass ihn niemand fangen konnte. Ein waschechter Geist. Da wusste ich, dass ich diesen Mann treffen wollte. Dass ich ihn dazu bringen musste, mich zu unterrichten. Also habe ich mir den Weg durch die halbe örtliche Verwaltung geflirtet, mir die nötigen Qualifikationen verschafft und meinen Wunsch in die Tat umgesetzt.”

“Einfach so?”, mit einer hochgezogenen Augenbraue legte Ghost die Pik-Zehn ab, obwohl er vermutete, dass der andere Spieler Zehnen sammelte.

Jake nahm sie mit einem leichten Schulterzucken auf.

“Menschen sind nun mal Menschen. Jeder mag es, wenn man ihm zuhört”, seine dunklen Augen trafen Ghosts, “Es sei denn, sie wollen Antworten, versteht sich.”

Sie spielten noch ein paar Runden, in welchen die von Ghost benötigten Karten bedauerlicherweise ausblieben, während Jake seine Strategie mehrmals zu ändern schien. Er schob die Karten auf seiner Hand hin- und her, tauschte gut ein Drittel davon aus. Manche sogar mehrmals. Ließ er seinen Vorgesetzten etwa gewinnen?

“Du willst also, dass ich dir beibringe, wie ich es mache?”, brach der dunkelhäutige Mann schließlich das Schweigen.

“Nein”, der Corporal schüttelte den Kopf, “du hast eine besondere Gabe. Was ich nicht habe, kannst du mir nicht beibringen.”

“Also waren deine Bemühungen, in diese Einheit zu kommen, umsonst”, endlich: die vorletzte Karte.

“Im Gegenteil”, Jake griff nach der Pik-Acht, von der sich sein Vorgesetzter trennte, “du hast mich gelehrt, meine eigene Gabe zu entwickeln. Und das tust du noch immer. Vor einem halben Jahr hätte ich deine Wut oder deinen Kummer nicht wahrgenommen, wäre nicht in der Lage gewesen, sie zu benennen. Dich zu hören ist die größte Herausforderung, die mir bis jetzt begegnet ist. Doch es ist machbar. Ich habe gesehen, dass Federov es kann. Er weiß immer, wenn du da bist.”

“Allerdings”, das kleine Lächeln schmerzte aus irgendeinem Grund, “Ihn konnte ich noch nie täuschen. Glaub’ mir, ich habe es versucht.”

“Und bist du an den Versuchen gewachsen? Hat er deine Messlatte höher gelegt?”

“Das hat er”, Ghost lachte, “er legt die Messlatte für uns alle höher.”

“Dann bleiben wir also?”, Jake zog eine Karte, ordnete sein Blatt neu und legte alles fein säuberlich auf den Tisch. Vier Asse, drei Zweien und eine kleine Straße. Schließlich warf er die letzte Karte auf den Ablagestapel. Ghosts letzte Karte. Karo-Zehn.

Der andere Infiltrator stutzte: “Wie meinst du das?”

“Ich meine, mit deinem Hintergrund und deinen Fähigkeiten könntest du problemlos in eine andere Einheit wechseln. Du könntest zweifelsohne mühelos auf Federovs früheren Posten aufsteigen, kaum dass die halbjährige Wartezeit vorbei ist.”

“Und du würdest mir zu einer anderen Einheit folgen?”, Ghost erwog die vor ihm liegenden Karten.

“Sicher, ich bin noch nicht fertig mit dem Lernen”, ein selbstgefälliger Zug schlich sich in Jakes Grinsen, “Doch warum solltest du? Auch wenn die letzte Mission übel schief gelaufen ist, glaube ich nicht, dass du mit dem Lernen fertig bist. Ich glaube nicht, dass du deinen Freund ohne dich in ein unbekanntes, feindliches Sonnensystem segeln lässt. Egal, wie schlecht du dich vor einer halben Stunde gefühlt hast, wird das in einem halben Jahr noch eine Rolle spielen? In einem Jahr? In zwei?”

Würde es?

“Du bist ein Stratege. Du bist geduldig. Du planst auf lange Sicht”, Jake tippte auf den Ablagestapel, “Das ist die lange Sicht.”

“Simmt”, mit einem unerwartet leichten Gefühl hob Ghost die Karte auf, schob sie in seine Hand und legte das Ganze auf den Tisch, “Ich denke, du hast recht. Und ich denke, ich könnte auch etwas von dir lernen. Danke, Jake.”

“Kein Problem, Boss”, augenzwinkernd sammelte sein neuer Freund alle Karten ein und begann, sie neu zu mischen, “Lust auf eine weitere Runde? Doppelt oder nichts?”

“Sicher. Aber dieses Mal gebe ich.”

GHOST\\ GESEHEN WERDEN